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Dossier »Systemwandel durch demokratischen Ökosozialismus«. Eine Einleitung

CJCM-Konferenz (Oktober 2022)

Von Hauke Neddermann

In der gegenwärtigen Vielfachkrise zeigt sich, dass die kapitalistische Produktion auch weiterhin, mit Marx gesprochen, »die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Der Satz gilt – in seiner ganzen menschenverschlingenden Tragweite. Längst schlagen auch die Vereinten Nationen Alarm: Unser Planet stehe, so António Guterres mit Blick auf die Erderwärmung, in Flammen. Doch verdeutlicht die Katastrophe, die sich von einer düsteren Prognose vor unseren Augen in düstere Gegenwart verwandelt, noch ein zweites: In den geschaffenen Asymmetrien der gewordenen Welt – darunter gesellschaftliche wie koloniale/imperialistische – betreffen die krisenhaften Verwerfungen ausgerechnet diejenigen besonders heftig, die zur Entstehung der Krise am wenigsten beigetragen haben. Vor den Verdammten verschanzen sich Privilegierten der Erde hinter Mauern und Meeren, sich vom Leid und von den Kämpfen abwendend. Dabei muss es im menschheitlichen Ringen um Zukunft heute doch darum gehen, unterschiedliche Perspektiven produktiv zu verbinden, sie solidarisch umzuarbeiten und weiterzuentwickeln.

Im südafrikanischen Johannesburg trafen sich Wissenschaftler und Aktivisten Mitte Oktober 2023 zu einem mehrtägigen Austausch an der Wits Universität. Ausrichter des Treffens zum Dachthema »Systemwandel durch demokratischen Ökosozialismus« war die südafrikanische Klimagerechtigkeits-Bewegung (Climate Justice Charter Movement, CJCM) unter Vorsitz von Vishwas Satgar und Ruth Ntlokotse.

Das Berliner Institut für kritische Theorie nahm als Unterstützer und Kooperationspartner an der Konferenz teil. Für das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus ist der Austausch mit der südafrikanischen Klimagerechtigkeits-Bewegung eine wirkliche Chance. Immerhin wird das thematische Feld des HKWM nicht allein durch die Frage nach Marx, d.h. nach dessen Werk und Wirkungsgeschichte, erschlossen, sondern auch und vor allem durch die Frage von Marx: der Frage nach Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen in Geschichte und Gegenwart also. Praxiskritisch und erfahrungsbezogen führt diese mitten hinein in die Krisen und Kämpfe der heutigen Welt. Und ohne ein Verstehen der Kämpfe, die im Globalen Ost-Süden gefochten werden, bliebe solches Nach-Denken eine west-nördliche Nabelschau.

Es ist uns eine große Freude, an dieser Stelle als erstes Ergebnis der Kooperation einige Positionsbestimmungen unserer afrikanischen Freunde zu präsentieren. Sie bilden ein Mosaik von Perspektiven aus dem Globalen Süden, die sich zum ausgedehnten Panorama eines ökosozialistischen Systemwandels und -wechsels zusammenfügen. Klar ist: Nicht nur Südafrika wäre ein besserer, menschenfreundlicherer Ort, würde er gelingen.

Im Globalen Ost-Süden verwüstet die Klimakrise natürliche und gesellschaftliche Landschaften, deren spezifische Formen ihrerseits auf koloniale/imperialistische Enteignungen und kapitalistische Ausbeutung verweisen. Gegenwärtige Kämpfe sind dadurch mehrfach bestimmt: eine kolonial zweckhafte Hegemonie produktivistischer Deutungsmuster und gesellschaftliche Fragmentierungen verkomplizieren kollektives Handeln. So verlangt die Klimafrage nach einer Antwort, argumentiert Tara Nair van Ryneveld (Southern African Faith Communities’ Environment Institute) in »Decolonial and eco-socialist principles to respond to the climate crisis«, die sich intersektional mit Kolonialität, Klasse und Ethnizität befasst – es gilt, so Tara, »die bestehenden Systeme zu dekonstruieren, die diese Ungleichheit geschaffen haben und aufrechterhalten.«

Unter dem Titel »Ecosocialism in One Country? Reflections on scale and nation in the Just Transition« denkt Janet Cherry (Nelson Mandela University, Gqeberha) über einen Grundwiderspruch der gegenwärtigen Menschheitskrise nach: Degradationsprozessen, die die Allmende – darunter Ozeane und Wälder usw. – gefährden und sich in globalem oder makroregionalem Maßstab abspielen, steht ein Krisenmanagement gegenüber, das hauptsächlich in nationalstaatlichem Rahmen denkt und agiert. Am Beispiel der Klimakatastrophe in Subsahara-Afrika fordert Janet eine Neuorientierung, es brauche dezentrale, demokratische, resiliente und nachhaltige Strategien in lokalem Rahmen der Kommune (unterhalb der Staats- und Provinzebene) sowie regionale Vernetzung (oberhalb der staatlichen Ebene).

Ein öffentliches Gut, das in der derzeitigen Öko- und Klimakrise besonders auf dem Spiel steht, ist Wasser. In »The water commons, small scale farming and democratic eco-socialism« untersucht Matthew Wingfield (Stellenbosch University) die politische Ökologie des Wassers im südlichen Afrika. Profitorientierter Wasser-Extraktivismus, z.B. in der Landwirtschaft, steht immer gravierenderen Dürreperioden (sowie gelegentlichen Flutkatastrophen) und schrumpfenden Trinkwasser-Vorräten gegenüber. So wird die Klimakatastrophe zum klärenden Moment: In der ungleichen Verwaltung des sich zuspitzenden Mangels an Ressourcen – hier: Wasser – wird unverkennbar deutlich, was und wer den Herrschenden als verzichtbar gilt. Im Kampf um Wasser öffnen sich, auch deshalb, Räume für ökosozialistischen Widerstand.

Die Bewegungsintellektuellen Sinegugu Zukulu (Sustaining the Wild Cost, Baleni) und Andrew Bennie (Institute For Economic Justice, Johannesburg) widmen sich dem Widerstand der Amadiba, die sich seit Langem gegen ihre Vertreibung durch transnationale Bergbaukonzerne wehren. Eine besondere Rolle in diesem Kampf spielt indigenes Wissen um die örtliche Ökologie, in die die traditionalen Gesellschaften eingebettet sind. Aus dem lokalen Beispiel ergeben sich Lektionen für das ökosozialistische Projekt insgesamt: Indigene Kosmovisionen, Praktiken und Wissenssysteme, das zeigen Sinegugu und Andrew in ihrem Text »Indigenous Knowledge and Democratic Eco-Socialism«, bergen ein erhebliches sozio-ökologisches Transformationspotential und sind ökomodernistischen und kohlenstoffnationalistischen ›Top down‹-Ansätzen oft überlegen. Dieses Potential gilt es zu mobilisieren.

Unsere Gesundheit als Menschen und die ›Gesundheit‹ unseres Planeten hängen aufs Engste zusammen – der globale Kapitalismus schädigt beide. So weist die Gesundheitsexpertin und -aktivistin Natalya Dinat (Johannesburg) in »Public Health Care and Democratic Eco-socialism« darauf hin, dass unbeschränkter Zugang zu guter Gesundheitsversorgung Teil jeder ökosozialistischen Transformation sein muss. Gelingen kann dies, wenn der Gesundheitssektor vom Diktat des Profits befreit wird, erst dann können auch die umweltschädlichen und menschenfeindlichen Routinen der Gesundheitsindustrie nachhaltig reformiert werden.

Tony Martel (Nelson Mandela University, Gqeberha) stellt das Energieproblem ins Zentrum seines Essays »Ecosocialist Electricity? Just Transition or Neo-Luddite Revolution« – so, wie es ja auch im Zentrum der Klimakrise steht. Doch wehrt Tony sich gegen neoliberale Zugänge, die allein auf eine grüne Transformation der Stromproduktion setzen, die Nachfrageseite jedoch unangetastet lassen wollen. Seine Frage ist radikaler: Ist nicht womöglich Elektrizität selbst ein Herrschaftsinstrument? Dann bräuchte es als nächste Revolution nicht etwa eine weitere produktivistische, in der – wie in den Revolutionen des 20. Jahrhunderts – jeder Haushalt an die Stromleitung angeschlossen werden soll, sondern eine, in der die ständige Verfügbarkeit von Elektrizität grundsätzlich infrage zu stellen ist.

In solch grundsätzlichen Frage- und Infragestellungen scheint die Notwendigkeit einer wirklichen Kulturrevolution auf. Der Klimawandel zwingt Menschen zum Bewusstseinswandel. In »Happiness, Degrowth and Democratic Ecosocialism« diskutiert Devan Pillay (Wits University, Johannesburg) vor diesem Hintergrund, wie »Glück« ökomarxistisch konzeptualisiert werden kann. Um zukunftsfähig zu sein, muss der Begriff über kapitalistische Wachstums- und Akkumulationslogiken hinausweisen. Was es brauche, schlägt Devan vor, sei ein dezidiert sozialökologisch, antikapitalistisch und feministisch fundierter Glücksbegriff – einer, in dem sich die alternative Moderne abbilde, um die es beim ökosozialistischen Systemumbau gehe.

Um auf die Probleme der Gegenwart antworten zu können, muss der Marxismus sich entlang einer ökozentrischen Ethik erneuern – notwendig sei seine Öffnung hin zu dekolonialen und demokratischen, ökofeministischen Perspektiven, argumentiert Vishwas Satgar (Wits University, Johannesburg) in seinem programmatischen Thesenpapier »Marxist eco-centric ethics, the commons and democratic eco-socialism«. Erst dann könne der Marxismus den Herausforderungen des historischen Moments gerecht werden und der geschichtlichen Niederlage des staats- und parteizentrierten Marxismus des 20. Jahrhundert, der seinerseits einiges zur planetaren Öko-Katastrophe beigetragen hat, Rechnung tragen. Es ist notwendig, schreibt Vish, Marx’ (implizite) Fürsorge-Ethik auf die Mensch-Natur-Beziehung auszudehnen, sodass sie zeitgemäß für die anstehende ökosozialistische transformative Praxis gerüstet ist.

Wir wünschen uns, dass die kurzen Texte, die eine breite Fülle an Themen und Perspektiven beinhalten, eine ebenso breite Debatte anregen. Die Lage ist zu ernst – hier wie dort, auf je eigene Weise, doch vielfach verknüpft und verwoben –, um sich nicht in die Auseinandersetzung zu begeben.

Johannesburg & Berlin, Herbst 2023