• Beitrags-Kategorie:BlogDeu

Robinsonade und kapitalistische Moderne: eine historisch-kritische Annäherung an den fortdauernden „Mythos“ des Robinson Crusoe

Lithografie von Wal Paget (1891). 
Quelle: https://victorianweb.org/art/illustration/paget/69.html (eigescanntes Bild von Philip V. Allingham)

von Martín Koval

Der schiffbrüchige Robinson Crusoe, der die westliche Gesellschaft mit nicht mehr als seinem Geist, seinen Händen und einigen wenigen, aus seinem Schiffswrack geretteten  Utensilien reproduziert, steht wie kein anderer Held der Weltliteratur für den Mythos des modernen Individualismus. Dieser kam in England auf, das im 18. Jahrhundert auf dem Weg zur ersten industriellen Weltmacht war (Watt 1996, insbes. 164-171).  Im Jahr 1719 erzählte Daniel Defoe in The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York [Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe aus York] die Geschichte des Robinson Crusoe, wobei sich der Autor dabei von den realen Erlebnissen Alexander Selkirks inspirieren ließ. Das Buch wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen zu einem Verkaufsschlager. Der Begriff „Robinsonade“ wiederum wurde erstmals vom deutschen Schriftsteller Johann Gottfried Schnnabel in der Vorrede verwendet, die dem ersten Teil seines insgesamt vierteiligen Romans Die Insel Felsenburg (veröffentlicht 1731, 1732, 1736 und 1743) vorangestellt ist. Darin verteidigt der fiktive Herausgeber Gisander seine Veröffentlichung mit dem Hinweis, sein Werk bestehe nicht aus „zusammengeraspelten Robinsonadenspänen“ (2020, 9), womit er auf die Sättigung des Büchermarktes verweist. Denn allein im Zeitraum zwischen 1719 und 1731 waren lediglich in Deutschland etwa 25 Werke dieser Gattung erschienen.

Zugleich ist die Affirmation Gisanders auch eine Kritik an dem schematischen Aufbau der Robinsonade, die sich prototypisch aus einer Reihe immergleicher Episoden zusammensetzt: das wirtschaftliche oder gesellschaftliche Scheitern in Europa, verschiedene abenteuerreiche Schiffsreisen, der Schiffbruch, die Rettung auf eine einsame Insel, ein Lernprozess und schließlich die wirtschaftliche (beispielsweise durch das Finden eines Schatzes) oder moralische Erneuerung (durch seelische Heilung oder religiöse Bekehrung), die Alternative zwischen der Rückkehr in die Zivilisation oder dem Verbleib auf der Insel.

Trotz der Einwände des von Schnabel erfundenen Herausgebers Gisander stellte sich die standardisierte Fantasie eines auf einer einsamen Insel vom Rest der Welt isolierten Menschen vom Zeitalter der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert hinein als sehr attraktiv heraus, denn auf ihrer Grundlage war es möglich, über die „Natur“ des Menschen und den vermeintlich „vertraglichen” Ursprung der Institutionen nachzudenken, die das gesellschaftliche Zusammenleben regeln. So wurde Robinsons Insel und mit ihr die Robinsonade in sehr unterschiedlichen Wissensbereichen wie der Ökonomie, der Anthropologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaften und der Pädagogik  im Laufe der Zeit „zu einem Schauplatz verbaler Kriegsführung” (Maximillian E. Novak 1963, 483).

Auch Karl Marx ließ das Motiv der Robinsonade nicht unbeachtet. Er griff darauf zurück, um gewisse ideologische Legitimationsversuche der bürgerlichen Gesellschaft anzuprangern (Grundrisse), und ebenso nutzte er Defoes Bild des Robinson, um das Verhältnis von Arbeit und Wert zu veranschaulichen und über Produktionsweisen nachzudenken, die, wie die sozialistische, nicht auf Warentausch basieren (Kapital). Friedrich Engels wiederum interessierte sich für Defoes Roman, um mit ihm eine Kritik der Metaphysik der Gewalt zu formulieren.  In der späteren marxistischen Tradition von Rosa Luxemburg bis zur Frankfurter Schule, wurde die Robinsonade entweder dazu herangezogen, um zu polemisieren oder um über die verschiedenen Formen der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus zu reflektieren. Auf ganz andere Weise machte sich Milton Friedman die Robinsonade zu eigen, wenn er in seiner Utopie einer liberalen Gesellschaft deren Mitglieder als vereinzelte „Robinsons” konzipierte. Edward Said seinerseits legte den Fokus auf die Unterwerfung des subalternen Subjekts. Als Ende des 20. Jahrhunderts die Robinsonsche Insel durch den Mars ersetzt wurde, so Fredric Jameson, gelangte die alte aufklärerische Utopie eines „Neubeginns” zu neuer Relevanz, was Ausdruck des zeitgenössischen Gefühls ist, dass das Ende der Lebensbedingungen auf der Erde unmittelbar bevorsteht.

1. „Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden […]” (MEW 13, 265). Nicht ohne Sarkasmus verwendete Marx 1857 den Begriff der Robinsonade, um die bürgerlichen Ökonomen und, ganz allgemein, die „Kulturhistoriker” zu kritisieren. Zu diesen zählte er auch Jean-Jaques Rosseau, dessen Gesellschaftsvertrag, „die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt” (ebd.).

Das Individuum werde von den „Propheten des 18. Jahrhunderts […] nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte” verstanden, „als das naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes” (ebd.).

Für Marx hingegen lag das Interesse der Verfasser dieser Robinsonaden an den unverdorbenen (vorsozialen) Anfängen nicht in einer Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies (der „Natur”) begründet, sondern stellte die ideologisch-theoretische Grundlage der Gesellschaft der freien Konkurrenz dar, die „im 18. [Jahrhundert] Riesenschritte zu ihrer Reife machte” (ebd). „In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen” (ebd.).

Ziel Marxens Kritik war demnach nicht Defoes Roman an sich, sondern die unter den Ökonomen vorherrschende Art und Weise, ihn zu lesen (Siegbert S. Prawer 1978, 274). Davon auszugehen, Produktion vollzöge sich individuell (und Gesellschaft habe einen individuellen Ursprung), schien ihm ebenso absurd, wie zu glauben, Sprache habe sich wie von Zauberhand in voneinander isolierten Individuen entwickeln können (MEW 13, 615). Stattdessen sah Marx vielmehr die in „Gesellschaft produzierenden Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen” – als Ausgangspunkt (ebd.). Am Robinson-Mythos kritisiert Marx also in der Tat „die Vorstellung eines gesellschaftlichen Nullpunkts“, die dem Verständnis eines Gesellschaftsvertrags ebenso zugrunde liegt (Ricardo Piglia 2005, 156) wie den Robinsonaden.  

Im Kapital (1867) wendete sich Marx – neuerlich mit Spott – Robinson Crusoe zu. In der Robinsonade, die eine nicht auf Warentausch basierende Produktionsweise beschreibt, dienen die von dem „bescheidenen“ (MEW 23, 90) Schiffbrüchigen, einem „unabhägigen Mann“ (MEW 23, 91), ausgeführten Tätigkeiten als „archetypisches Beispiel dafür, dass es hauptsächlich die menschliche Arbeit ist, die den Wert bestimmt“ (Pat Rogers 2018, 50). Zugleich konnte Marx anhand der Situation Robinsons die sozialistische Produktionsweise darlegen, die eine Ausweitung dessen auf alle Menschen bedeuten würde, was in Defoes Roman lediglich von einem einzigen Menschen genossen wird, nämlich die Einheit von Produktion und Konsum: „Stellen wir uns […] einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell“ (MEW 23, 92, Hervorhebungen durch MK).

Im Anti-Dühring (1877) beleuchtet Engels die Robinsonade aus einer anderen Perspektive, um gegen die positivistische Erhebung der Gewalt zum Ursprungs- oder Ausgangsprinzip der Geschichte durch Eugen Dühring zu polemisieren. Die Robinsonade im Hinterkopf, verdeutlichte und erklärte Dühring gar eine vermeintliche Urszene, in der sich erstmalig und für immer das Schema der Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen, also das Verhältnis von Herr und Knecht, herausgebildet habe (vgl. insbes. seinen Kursus der National- und Sozialökonomie von 1873). In diesem Verhältnis verberge sich so etwas wie eine Ursprungsgewalt, auf der für Dühring alle geltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse aufbauen. Dies gelte selbst in den kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart, in denen diese Ursprungsgewalt, wenn auch verborgen und verschleiert, fortbestehe. Das „Gewalteigentum“, also das auf Gewalt basierende Eigentum (Dühring 1892, 5) ist demnach eine metaphysische Kategorie, bzw. in jedem Fall ein außergeschichtliches, von den ihrerseits geschichtlich veränderlichen Produktions- und Tauschverhältnissen unabhängiges Phänomen.

In diesem Zusammenhang verwies Engels, der Logik Dührings folgend, auf Crusoe und Freitag als neue Adam und Eva (oder besser Adam und Adam): „Der Adam, der hier Robinson heißt, lässt also seinen zweiten Adam, den Freitag, drauflos schanzen“  (MEW 20, 145). Hier liegt der Ursprung des Wirtschaftssystems und der gesellschaftlichen Ungleichheit. Alles beruht letztlich auf der natürlichen Neigung, den anderen zu beherrschen, „auf  der Unterdrückung, der Gewalt“ (ebd.). Engels führt dazu weiter aus, dass für Dühring „die Sache […] ja schon […] durch den berühmten Sündenfall [bewiesen ist], wo Robinson den Freitag geknechtet hat. Das war eine Gewalttat, also eine politische Tat. Und da diese Knechtung den Ausgangspunkt und die Grundtatsache der ganzen bisherigen Geschichte bildet und ihr die Erbsünde der Ungerechtigkeit einimpft, […] da ebenfalls auf dieser Urknechtung das ganze bisher geltend gebliebene ‚Gewalteigentum‘ beruht, so ist klar, dass alle ökonomischen Erscheinungen aus politischen Ursachen zu erklären sind, nämlich aus der Gewalt. Und wem das nicht genügt, der ist ein versteckter Reaktionär“ (MEW 20, 147).

In einer Art Widerlegung Dührings mit den Mitteln der Literaturkritik griff Engels erneut auf Defoes Roman zurück, um drei Dinge zu verdeutlichen: erstens, dass Robinson Freitag nicht aus Machtgier unterwirft, sondern aus wirtschaftlichem Nutzen; dass zweitens Robinson sich gegenüber Freitag dank seiner technischen Hilfsmittel durchsetzt; und dass drittens die Versklavung Freitags nur deshalb möglich ist, weil Robinson über die Mittel verfügt, die ersterer zum Arbeiten und Leben braucht. „Ehe also Sklaverei möglich wird, muss schon eine gewisse Stufe in der Produktion erreicht und ein gewisser Grad von Ungleichheit in der Verteilung eingetreten sein“ (MEW 20, 149).

2. Ebenso wie Marx in den Grundrissen gebrauchte auch Rosa Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals den Begriff der „Robinsonade“ in polemisierender Art und Weise. In ihrer Schrift kritisierte sie an der Wirtschaftstheorie von Jean Charles Leonard Simonde de Sismondi, dass dieser „immer wieder von seinem Robinson den Anlauf nehmen“ muss (1990, 147). Und über Johann Karl Rodbertus schrieb sie, er verwechsele die „‚Wirtschaft‘ Robinons“, in der das Kapital – ohne jegliche Vermittlung – „schlicht und einfach die Produktionsmittel sind“, mit der kapitalistischen Wirtschaft (1990, 219). In Otto Bauer wiederum erkannte Luxemburg eine „kindische Phantasie einer kapitalistischen Gesellschaft auf der Insel Robinsons“ (1990, 511). Für Luxemburg stand dieses Verständnis Bauers im Widerspruch zur Realität, in der sich kapitalistische Produktion und Akkumulation in einer Gesellschaft nur in wechselseitiger Beziehung zu anderen Gesellschaften entfalten können; eine Schlüsselbeobachtung Luxemburgs, um das Phänomen des Imperialismus zu erklären (vgl. 511 ff.).

In Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) wertete Georg Lukács das menschliche, „vom Kapitalismus künstlich isolierte“ Bewusstsein als „robinsonhaft“ (1970, 246); ein Umstand, der zu entscheidenden Problemen in der Selbstverständigung des [bürgerlichen] Menschen führe (vgl. ebd.).  In seinem Text „Der Roman“ (1934, auf russisch 1935), der Teil seiner Moskauer Schriften ist, ließ Lukács zwei Jahre später dieses epistemologische Interesse beiseite. Hier nun sah er im Optimismus und der Arbeitsamkeit Crusoes einen Indikator für das „positive Verhältnis [Defoes] zu [seiner] Epoche, zu [seiner] Klasse [d.h. dem Bürgertum]“ (1981, 36). Lukács hielt fest, dass in jener Zeit, in der sich das Bürgertum weltweit zur herrschenden Klasse entwickelte, [in den Romanen wie dem Defoes, Anm. d. Ü.] ihr „fortschrittliches, aktives Prinzip“ (1981, 63) betont werde. Lukács verwies daher darauf, dass „jede Schaufel oder Hacke, mit der Robinson auf seiner Insel die Natur bewältigt”, er sie „der Zivilisation unterwirft“ (1981, 37). Er betonte, dass dieser Optimismus jedoch nicht bedeutete, dass damit „die Fürchterlichkeit“ des „konkreten Waltens“ der „gesellschaftlichen Mächte“ verschwiegen werden würde, mit denen sich der Mensch die Natur Untertan machte. Vielmehr hätten diese gesellschaftlichen Mächte zur damaligen Zeit „noch nicht die Vollendung jener toten Gespenstigkeit erhalten“, wie es später der „bereits konsolidierten, bereits sich automatisch bewegenden kapitalistischen Gesellschaft“ eigen war (Ebd.).

In der Dialektik der Aufklärung verstanden Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Homers Odysee (VIII v. Chr.) als erste Robinsonade, deren Held bereits ein homo oeconomicos war, der die mythische Natur durch List dem Prinzip der Ratio unterwirft. Die durch die Insellage ermöglichte Isoliertheit reflektiere die Bedingung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, in der der Einzelne rücksichtslos seine eigenen Interessen verfolgt (vgl. 1969, 69). Ebenso skizzierten Adorno und Horkheimer eine psychologische Hypothese über die Ursprünge der Kolonialmentalität. Die kindliche Wehrlosigkeit, die die Schiffbrüchigen empfinden, wenn sie von den Wellen gegen die Felsen geworfen werden, wirkt „als Ideologie für ihre gesellschaftliche Vormacht“ (ebd.), die später dem Eingeborenen gegenüber in rachsüchtiger Gewalt manifest wird. Das Gegenstück zu all dem ist schließlich die Entfremdung des Schiffbrüchigen anzeigende Einsamkeit. Alle anderen Menschen begegnen ihm „bloß in entfremdeter Gestalt“, „stets als Instrumente, Dinge“ (ebd.).

Erich Fromm verwies 1941 auf Robinson Crusoe, um über die „mächtige“ Angst des zeitgenössischen Menschen vor der physischen, aber vor allem der mentalen Isolation nachzudenken (vgl. 2000, 26).  In teilweiser Übereinstimmung mit Fromm notierte Adorno 1953, dass Franz Kafka „die totale Robinsonade geschrieben [hat], die einer Phase [der Entwicklung des Kapitalismus], in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und auf einem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohne Steuer umhertreibt“ (1997, 280). Damit verwies Adorno auf die spätkapitalistische Entfremdung des Menschen in der Beziehung zu seinen Mitmenschen und zu den Dingen. Es ist ein Bild, das dazu dient, zu verstehen, worüber  beispielsweise Robinson nach seiner Rettung auf die einsame Insel berichtet: „Mit emporgehobenen Händen […] ging ich am Strande auf und ab. Ich dachte an meine ertrunkenen Gefährten und dass ich die einzige gerettete Seele unter allen sei; denn ich sah keinen wieder, habe auch kein Zeichen von ihnen mehr wahrgenommen, außer drei Hüten, einer Mütze und zwei nicht zusammengehörigen Schuhen“ (2015, 50).  Das Detail der beiden nicht zusammengehörigen Schuhe kann als Ausdruck einer zivilisatorischen Katastrophe interpretiert werden: Es lässt sich auf das für das Individuum unverständliche Wesen der heutigen Welt, auf deren Sinnlosigkeit als einer verdinglichten bzw. toten Realität übertragen, der sich das Individuum gegenüber sieht.

3. Während die Robinsonade auffälligerweise im Marxismus dazu benutzt wurde, Strategien der ideologischen Selbstlegitimation des Bürgertums bzw. ihr entfremdetes Bewusstsein aufzudecken und über die vielfältige Gewalt nachzudenken, die dem kapitalistischen Zivilisationsprozess eingeschrieben ist, diente sie dem Wirtschaftswissenschaftler und Mitbegründer der Chicagoer Schule Friedman hingegen noch 1962 (in seinem Erfolgswerk Kapitalismus und Freiheit) zur Rechtfertigung seines Ideals einer Gesellschaft des freien Marktes. Diese ist für ihn nichts Anderes als „eine Ansammlung von Robinsons“ (2002, 13), in der die Individuen miteinander kooperieren würden. In einer solchen Gesellschaft würden sie dies aus freien Stücken tun – „Kooperation gelingt […] ohne Zwang“ (ebd.) –, insofern sie nach dem Dafürhalten Friedmans ihre Produkte ohne jegliche paternalistisch-staatliche Kontrolle zum persönlichen Vorteil untereinander tauschen würden.

4. Im Rahmen der Postcolonial Studies erinnerte Said daran, dass die Romanfigur Robinson Crusoe vor allem ein Akteur der imperialistischen Herrschaft war (vgl. 1994, 13-14 und 116f.) und dass die Form des Romans im Allgemeinen (und Defoes Robinson im Speziellen) „eine hohe Bedeutung bei der Herausbildung imperialer Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen“ gehabt hat (1994, 14). Bereits zuvor, zwischen den 1960er- und 80er-Jahren, war das subalterne Subjekt, das Said in seinem Buch hervorgehoben hatte, von Autoren anderer Robinsonaden starkgemacht worden. Bei Michel Tournier (Freitag oder Im Schoss des Pazifik, 1968), Julio Cortazar (vgl. sein Hörspiel „Adiós, Robinson“ von 1985) und John Maxwell Coetzee (Foe, 1986) geschah dies in Form einer polisemischen Umkehrung des Verhältnisses zischen Robinson und Freitag.

Die Robinsonaden des 20. und 21. Jahrhunderts greifen zudem neue Themen wie die Furcht vor der nuklearen Katastrophe und – in Anlehnung an den von Adorno und Fromm in den 1940er- und 50er-Jahren gesetzten Schwerpunkt – die „existenzielle“ Einsamkeit in den hoch entwickelten Gesellschaften auf. Bei Ersterem lässt sich eine Linie von Arno Schmidts Erzählung Schwarze Speigel (1951) bis hin zu Plop  (2002) des Argentiniers Rafael Pinedo ziehen, für Letzteres steht der 1963 veröffentlichte Roman Die Wand von Marlen Haushofer.

Die Maßnahmen zur Isolierung im Rahmen der Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben diese beiden Entwicklungslinien, in denen die Robinsonade als literarischer Ausdruck einer berechtigten Sorge um das Schicksal der Menschheit neu adaptiert wird, zu neuer Aktualität verholfen. Nichtsdestotrotz besteht die Attraktivität der Robinsonade möglicherweise auch darin, dass sie uns zuweilen – wie Jameson bei der Analyse von Kim Stanley Robinsons Marstriologie (1992) nahelegte – von der utopischen Möglichkeit eines „totalen Neuanfangs“ (2005, 402) träumen lässt; ebenso wie einst die vielen Leser der Robinsonaden im 18. Jahrhundert.

Übersetzung von David Graaff

 

Martín Koval hat an der Universidad de Buenos Aires (UBA) in Literatur promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas (CONICET, Nationaler Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung, Argentinien) und Dozent an der UBA sowie der Universidad Nacional Arturo Jauretche (UNAJ). Der ehemalige DAAD-Stipendiat hat als Gastdozent Seminare an der Universidade de Brasilia (Brasilien) und an der Universität Duisburg-Essen gegeben. Er ist Autor von Vocación y renuncia. La novela de formación alemana entre la Ilustración y la Primera Guerra Mundial(Buenos Aires 2018; deutsch: Berufung und Entsagung. Der deutsche Bildungsroman zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg) und hat Arbeiten von E. T. A. Hoffmann, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Schnabel und zuletzt Johann Karl Wezel ins Spanische übersetzt.

Literatur

Th. W. Adorno, „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. GS, Frankfurt a.M 1997, 254 – 287.

Th. W. Adorno/ M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1969.

D. Defoe, Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York [1719]. Übersetzung von Karl Altmüller. Braunschweig 2015.

E. Dühring, Cursus der National- und Socialökonomie : Nebst einer Anleitung zum Studium u. zur Beurtheilung von Volkswirthschaftslehre u. Socialismus [1876]. Leipzig 1892.

M. Friedman, Capitalism and Freedom [1962]. Chicago / London 2002.

E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit. München 2000.

F. Jameson, Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. New York/ London 2005.

G. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, München 1970.

Ders., „I. Der Roman“, in: Moskauer Schriften. Zur Literaturtheorie und Literaturpolitik 1934 – 1940, Frankfurt am Main 1981, 17-55.

Ders., „II. Referat über den ‚Roman‘“, in: Moskauer Schriften. Zur Literaturtheorie und Literaturpolitik 1934 – 1940, Frankfurt am Main 1981, 57-67.

R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Werke, Band 5.

M. E. Novak, „Robinson Crusoe and Economic Utopia“, in: The Kenyon Review 25 (3), 1963, 474 – 490.

R. Piglia, El último lector. Buenos Aires 2005.

S. S. Prawer, Karl Marx and World Literature [1976]. Oxford 1978.

P. Rogers, „Robinson Crusoe: Good Housekeeping, Gentility, and Property“, in: The Cambridge Companion to ‘Robinson Crusoe’. Ed. de J. Richetti. Cambridge 2018, 49-66.

E. Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Übersetzung von Hans-Horst Henschen. Frankfurt a. M. 1994

J. G. Schnabel, Die Insel Felsenburg [1731]. Marburg 2020.

I. Watt, Myths of Modern Individualism. Faust, Don Quixote, Don Juan, Robinson Crusoe. Cambridge 1996.