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Deutsch-chinesische Genossenschaft

Geschichte, heißt es in einem wohl fälschlicherweise Mark Twain zugeschriebenen Wort, wiederholt sich nicht – aber gelegentlich reimt sie sich. Dreißig Jahre nachdem der Kalte Krieg mit der Implosion des sowjetischen Blocks im Geschichtsbruch endete (und nachdem Francis Fukuyama sich mit seinem Heldengesang vom Endsieg des liberal-demokratischen, kapitalistischen Westens der Siegermacht als Hofdenker andiente), hält ein neuer globaler Antagonismus die Welt im Zangengriff: der äußere Gegensatz zwischen ›westlichem Modell‹ und ›chinesischem Modell‹. Wie dieser zu deuten ist, ist umstritten, gerade unter Marxisten. Für Vijay Prashad, Direktor des Tricontinental Institute for Social Research, ist die China-Feindschaft des Westens längst zum ›Neuen Kalten Krieg‹ eskaliert (Prashad 2021), die Kulturwissenschaftlerin Dai Jinhua 戴锦华 hält den Begriff dagegen für ungeeignet, um »die Erschütterungen, das Chaos und die Instabilität unserer neuen Weltlage zu fassen« (Dai 2021). Klar ist jedenfalls: Die zunehmende Aggressivität, mit der man China im Westen als ›systemischem Rivalen‹ begegnet, wirft einen gewaltigen Schatten. Inzwischen verdunkelt dieser auf deprimierende Weise auch die Perspektive intellektueller Verständigung mit China. Denn der Raum für Kooperation, deren Spielraum der Zwischenraum ist, wird im bellifizierten Gegenüber der Blöcke destruktiv zerrieben –auch und nicht zuletzt: der Raum für wissenschaftliche Kooperation.

Vor diesem Hintergrund bleibt das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus ein unzeitgemäß zeitgemäßes Projekt: Seit 2017 arbeiten Wissenschaftler und Übersetzer in transnationaler, transkultureller, translingualer Kooperative mit Zentren in Peking und in Berlin am 马克思主义历史考证大辞典 (Makesizhuyi lishi kaozheng da cidian), d.h. an der chinesischen Ausgabe des HKWM, dessen zweiter Band im April 2021 erschienen ist. Die Übertragung ins Chinesische ist ein trotziges Projekt gegen die Zeit, eine Arbeit im Widerstreit zu ihr. In unserer Werkstatt denken wir über Grenzen hinweg gemeinsam nach und ringen solidarisch um Verständigung. Dass unser Fokus dabei auf dem unabgegoltenen Menschheitstraum von der Überwindung destruktiver Antagonismen liegt, dass also Forschungsgegenstand und Forschungspraxis gewissermaßen in eins fallen, positioniert das Wörterbuch auf doppelte Weise quer zu jedem Block- und Kriegsdenken, das ein ausschließendes Entweder-Oder als Grundhaltung verordnet. Die Geschichte, sie reimt sich.

Für alle, die in antichinesischen, antimarxistischen ›Decoupling‹-Fantasien schwelgen und die Brücken zwischen West und Ost brennen sehen wollen, mag unsere deutsch-chinesische Genossenschaft eine Provokation darstellen. Für uns ist und bleibt sie: notwendig. Denn der kollektive Übersetzungsprozess umfasst mehr als die Übertragung der Artikel von der Ausgangs- in die Zielsprache. Die eigentliche Herausforderung ist eine andere: Wie lässt sich der Diskurs über ein sprachlich, kulturell usw. spezifisch artikuliertes Allgemeines – die global zirkulierende, lokal angeeignete Menschheitsfantasie vom Reich der Freiheit, in dem das Diktat der Notwendigkeit überwunden ist – vom einen bestimmten, bestimmenden Kontext in einen anderen transportieren, ohne verfälschend entweder das Universale oder das Partikulare zu negieren? Es ist ein Problem, dass sich nur gemeinsam bewältigen lässt, in bewusst multiperspektivischem Austausch (Neddermann 2021).

Das HKWM versteht sich – in Anlehnung an den Diskurs der Zapatistas – als »Welt, in der viele Welten Platz haben« (Haug 2002). Die dichotome Logik der Blockkonfrontation kann, schon deshalb, niemals die Logik eines HKWM sein. Bereits in den 1980er Jahren suchte und fand das Wörterbuch seinen Platz zwischen den gefrorenen Fronten, als kooperativer Denk-Raum mit plural-universalistischer Perspektive (Haug 1994). Im Multiversum marxistischen Wissens kann Vermittlung gelingen, wo Differenzen vermessen und aktiv bearbeitet werden. Das ist unbequem, manchmal schmerzhaft. Aber es ist der einzige Weg.

Und so ist auch die deutsch-chinesische Zusammenarbeit – die Übersetzungsarbeit, die Lektoratsarbeit, die Herausgabearbeit – weniger durch Reibungslosigkeit gekennzeichnet als durch produktive Reibung. Denn das Verhältnis zwischen HKWM, wesentlich an der ›Linie Luxemburg-Gramsci‹ (Haug 2012) orientiert, und chinesischem Marxismus, der in relevanten Teilen ein staatgewordener Marxismus an der Macht ist, welcher durch eigene, teils konträre historische Erfahrungen und Notwendigkeiten determiniert wird, ist mitnichten ohne Widersprüche. So stellt der Dialog sich als stetes Ringen um Nähe und Distanz dar, um Verständnis und Abgrenzung, Analyse und Kritik. Er ist kein Selbstläufer. Umso erfreulicher sind die Ergebnisse: Bd. 1 und Bd. 2 der chinesischen HKWM-Ausgabe konnten bereits erscheinen, Bd. 3 ist vollständig übersetzt und wird derzeit in Berlin und Peking lektoriert, Bd. 4 befindet sich in Vorbereitung.

Die Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, sind grenzenlos. Global zirkulierende Finanzströme, Datenströme, Warenströme lassen sich von einzelnen Gesellschaften, zumal von kapitalistisch-konkurrierenden, nicht bändigen, in Klimakatastrophe und ökologischer Degradierung erschöpfen sich Lebensbedingungen, das Coronavirus SARS-CoV-2 umrundet die Erde in immer neuen Varianten. Einen neuen Kalten Krieg können wir uns nicht leisten. Und für das HKWM, dessen Anspruch und Auftrag es ist, im Nach-Denken des menschheitlich Gewesenen stets auch Ort eines produktiven Begreifens nach vorn zu sein, steht fest: Es kann und wird nur gemeinsam gehen, in transnationaler Genossenschaft, in Berlin, in Peking und weltweit.

Hauke Neddermann (Berlin)

Literatur

Dai J. (2021) »The new Cold War? That is the question«, Episteme 5, online:  www.positionspolitics.org/the-new-cold-war-that-is-the-question/

F. Fukuyama (1989) »The End of History?«, The National Interest 16,  3-18

F. Haug (2012) »Linie Luxemburg-Gramsci«, HKWM 8/I, 1122-1152; online: http://inkrit.org/neuinkrit/index.php/en/hcdm/articles

W. F. Haug (2002) »Eine Welt, in der viele Welten Platz haben: Zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus«, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft: Aspekte einer problematischen Beziehung, hrsg. v.  Stefan Jordan u. Peter T. Walther, Waltrop: Spenner, 421-434

ders. (1994) »Vorwort«, HKWM 1, I-VI

H. Neddermann, 2021 (i.Ersch.): »Ein kooperatives Projekt in konfrontativen Zeiten: die chinesische Ausgabe des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus«, Deutsch-chinesische Kooperationen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich: Entwicklungen, Chancen, Herausforderungen, hrsg. v. Chen Hongjie, Mechthild Leutner, Pan Lu u. H. Neddermann, Berlin/Münster: Lit.

V. Prashad (2021) »US creates divide, not with China, but between humanity and imperialism« (Interview m. Lu Yuanzhi), Global Times, 22.07.2021, online: www.globaltimes.cn/page/202107/1229305.shtml